Dienstag, 19. Juli 2016

Freiheit, die wir meinen - Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit - Themen - Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen

          evtl. sollte man diese Diskussion nochmal aufgreifen

gruene-bundestag.de

Auszug:
 

Freiheit, die wir meinen

Freiheitsfest - 20 Jahre Friedliche Revolution

Mit Dr. Tine Stein, Wissenschaftszentrum Berlin
Die Jahre 1989 und 1990 bedeuteten keine Wende, sondern tatsächlich eine – friedliche – Revolution, denn es ging um eine neue Legitimationsgrundlage für die ostdeutsche Gesellschaft. Mit dieser grundlegenden Feststellung eröffnete Dr. Tine Stein einen lebendigen Vortrag über eines der spannendsten Kapitel deutscher Verfassungsdiskussion. Denn dass die Verfassungsdebatte von 1989/90 keineswegs ein Thema von gestern ist, zeigte nicht nur das Interesse an diesem Workshop, sondern auch das Echo, dass SPD-Chef Franz Münteferings wohl allerdings eher populistischer Verfassungsvorstoß vor einigen Monaten erfuhr.
Am Anfang der Verfassungsbewegung von 1989/90 stand der erste Runde Tisch, der den Auftrag formulierte, einen neuen Verfassungsentwurf für die DDR zu entwickeln. In diesem sollten sowohl die Grundrechte wirkungsvoll verankert werden als auch die basisdemokratischen Erfahrungen der friedlichen Revolution einfließen. Der Gedanke, dass es schon in wenigen Monaten zur deutschen Wiedervereinigung kommen würde, kam damals kaum jemandem. Tine Stein: "Man dachte damals in Jahren." Und schließlich ging ja auch Art. 146 GG in seiner damaligen Fassung davon aus, dass es einen gesamtdeutschen Verfassungsdiskussionsprozess geben würde. Die sich im Frühjahr 1990 überschlagenden Ereignisse – vorgezogene Volkskammerwahlen und der Wahlsieg der sogenannten Allianz für Deutschland – sorgten jedoch dafür, dass die Ergebnisse der eingesetzten "Arbeitsgruppe Neue Verfassung" weder politisch noch gesellschaftlich auf breite Resonanz stießen. Es gab durchaus Interesse, allein 200.000 Unterschriften wurden für den vorgelegten, vom demokratischen Selbstbewusstsein der Revolution geprägten Verfassungsentwurf gesammelt, doch gerade auf politischem Parkett wurde dem Entwurf durch das Zurückdrängen der Bürgerrechtler der ersten Stunde wenig Beachtung geschenkt. Im Gegenteil: Vorwürfe wurden laut, dass dieser Entwurf ein von "Linkem Gedankengut" geprägter "Dritter Weg zum zweiten Fall" der DDR sei.
Als sich die deutsche Einheit abzeichnete und eine intensive Diskussion darüber entbrannte, ob sich Deutschland nach Art. 146 GG aF oder nach Art. 23 GG aF wiedervereinigen sollte, mehrten sich dann auch in der alten Bundesrepublik Stimmen, die auf eine nun gesamtdeutsche Verfassungsdiskussion drängten. Es konstituierte sich ein Verfassungskuratorium mit West- wie Ostdeutschen, doch es formierte sich auch Widerstand. Insbesondere im konservativen, aber auch im linken politischen Spektrum wurden Befürchtungen laut, die "Errungenschaften" des Grundgesetzes seien in Gefahr. So formulierten linke Stimmen ihre Angst, dass bei einer neuen Verfassungsdiskussion "der alte deutsche Chauvinismus" wieder zutage treten könnte, gar die Wiedereinführung der Todesstrafe drohe.
Am Ende setzten sich die Skeptiker durch. Die Wiedervereinigung verlief eher als "rechtstechnischer Akt", am 02. Oktober 1990 gründeten sich die ostdeutschen Länder und einen Tag später traten diese der alten Bundesrepublik nach Art. 23 GG aF bei. Was blieb, war die Vereinbarung, in einer gemeinsamen Verfassungskommission aus Bundestag und Bundesrat Vorschläge für eine Überarbeitung des Grundgesetzes zu erarbeiten. Passiert ist dabei nicht allzu viel: So sperrte sich insbesondere die Union gegen mehr direktdemokratische Instrumentarien im Grundgesetz - erstaunlich, hatten doch die Menschen in der DDR erst ihre demokratische Reife eindrücklich unter Beweis gestellt.
In der anschließenden Diskussion im Workshop stand die Frage im Mittelpunkt, ob damit eine Chance für eine neue Legitimationsgrundlage unserer gesamtdeutschen Gesellschaft verpasst wurde. Und: gibt es ihn noch, den "constitutional moment", das "window of opportunity", in dem eine breite gesellschaftliche und politische Diskussion über eine neue Verfassung möglich ist? Die Ansichten darüber gingen auseinander. Juristisch gäbe es die Möglichkeit jederzeit, doch politisch, so die Mehrheit im Publikum, sei eine solche neue Verfassungsbewegung gegenwärtig kaum vorstellbar. Dennoch, so Tine Stein zum Abschluss der Diskussion, sollte doch gerade das Jubiläumsjahr 2009 allemal ein guter Anlass sein, über das Thema wieder ernsthaft zu sprechen.

Keine Kommentare: