Sonntag, 27. Januar 2019

Hitlers Traum vom vereinten Europa unter deutscher Herrschaft / Margot Käßmann: für mich gehört Russland zu Europa und Europa zu Russland

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01.11.2009 - Ging es Hitler nicht nur um den Lebensraum im Osten, sondern vielmehr auch um eine Neue Ordnung für Europa? Reichen die Wurzeln der ...

Auszug:


Europa im Herbst 1941: im Osten rückt die deutsche Wehrmacht auf Moskau zu; im Norden ist Skandinavien mit Ausnahme des neutralen Schweden besetzt; im Süden reicht die Macht Berlins bis Athen, ein kleineres Kontingent der Wehrmacht unter Erwin Rommel hatte allerdings seinen schnellen Vormarsch vor der Wüstenstadt Al Alamein stoppen müssen. Und im Westen? Da zeigt die Präsenz deutscher Uniformen in den Cafés von Paris nur allzu deutlich, wer der neue Herr im Land ist.
Seit den Zeiten des römischen Kaisers Trajan – und selbst unter dem Korsen Napoleon – hatte in Europa kein Reich mehr von diesen Ausmaßen existiert. „Hitlers Imperium“ nennt Mark Mazower, britisch stämmiger Historiker an der New Yorker Columbia University, folgerichtig sein Buch – und behandelt damit Aspekte, die in der reichlich vorhandenen Fachliteratur zur NS-Herrschaft noch nicht gewürdigt wurden:

Ging es Hitler nicht nur um den Lebensraum im Osten, sondern vielmehr auch um eine Neue Ordnung für Europa? Reichen die Wurzeln der europäischen Integration gar bis in die bösen Jahre des Nationalsozialismus zurück? Wobei, das soll sofort vermerkt werden, Mazower ganz sicherlich kein britischer Anti-Europäer ist, der mit allem Mittel versuchen würde, Brüssel zu diskreditieren um Britannien vor den Zumutungen der EU zu bewahren.

Die entscheidende Frage aber ist: Wenn Hitler im Herbst 1941 auf dem Höhepunkt seiner Macht stand, wenn er durchaus an einer Neuen Ordnung für Europa interessiert war: warum gelang es ihm nicht, aus den schnellen Eroberungen der Wehrmacht ein echtes europäisches Imperium unter deutscher Herrschaft zu fügen?

Am Widerstand der Unterdrückten hat es zunächst nicht gelegen. Der inzwischen weit verbreiteten Auffassung, ganz Europa habe durchgängig unter der Knute der deutschen Fremdherrschaft gelitten, macht Mazower schnell den Garaus. Das furchtbare Schicksal der Juden, Polen oder Tschechen beschäftigte die meisten Europäer nicht sonderlich. Eher schon waren viele beeindruckt von den schnellen Siegen der Wehrmacht, dem Modernisierungsanspruch, der ebenfalls Teil der nationalsozialistischen Ideologie war, und den wirtschaftlichen Erfolgen, die man Hitler zuschrieb:

„Die Entscheidung zur Kollaboration war keinesfalls unerklärlich. 1940 hatte Europa das Scheitern des Liberalismus und der Demokratie erfahren. Manche Europäer hofften standhaft, Deutschland werde Europa besser vereinigen als der Völkerbund oder Briten und Franzosen. Andere nahmen es einfach hin.“

Auch fehlte es nicht an vernünftigen deutschen Plänen für ein Vereintes Reich Europa, das dem bolschewistischen Erzfeind ebenso die Stirn geboten hätte wie der aufstrebenden, frischen, Technologiemacht USA, für die Hitler durchaus Bewunderung hegte.

„Es war nichts spezifisch Nationalsozialistisches an Deutschlands Forderungen, die europäische Wirtschaft nach deutschem Vorbild zu rationalisieren, um sie aus der Depression zu holen, die Arbeit zwischen dem agrarischen Südosten und dem industriellen Nordwesten aufzuteilen oder Berlin zum Zentrum von Planung, Finanzen und Handel zu machen. Diese Ideen kamen meist aus Wirtschaftskreisen und griffen nur Pläne und Skizzen wieder auf, die seit dem Ersten Weltkrieg existierten.“

Entscheidend aber war: die Nazionalsozialisten waren zu dumm, zu unfähig, zu korrupt, zu brutal und ideologisch zu verblendet, um dieses Europa, das ihnen in den Schoß gefallen war wie eine faule Frucht, zu einem Imperium zu formen. Die Römer hatten den von ihnen eroberten Völkern ein verlässliches Rechtssystem geschenkt und die Möglichkeit, Staatsbürger zu werden. Um Ruhe und Ordnung in ihrem Imperium zu wahren, wurden zu Trajans Zeiten höchstens zwei Legionen benötigt. Napoleon hatte alte, überkommene Ordnungen hinweggefegt und mit dem Code Napoleon ein modernes Staats- und Bürgerrecht eingeführt.

Noch unter Hitlers Herrschaft gab es zwar konservative Kreise in Deutschland, die in vernünftigen wirtschaftlichen Dimensionen für eine Neue Ordnung dachten: Spätestens nach dem Beginn des Krieges jedoch hatten sie nichts mehr zu melden; und die Nazis so zitiert Mazower einen Dolmetscher Hitlers, sprachen zwar dauernd von einem tausendjährigen Reich, konnten aber keine fünf Minuten voraus denken.

Dieser rote Faden zieht sich durch Mazowers gesamte, akribisch recherchierte und faktenreiche Geschichte der deutschen Besatzungen in Europa: Der Mythos von der Effizienz der Nazionalsozialisten ist eben das: ein Mythos. Militärische Siege wurden schnell, zu schnell erzielt. Niemand wusste so recht, was mit den Eroberungen geschehen sollte – der Streit innerhalb der NS-Nomenklatura über das Schicksal Polens beispielsweise dauerte Monate. In einigen Ländern wie Dänemark blieben Regierung und Verwaltung fast vollständig erhalten und unbehelligt. Über die eroberten russischen Gebiete hingegen fegte ein einziger Sturm der Zerstörung hinweg, der nicht nur Millionen Menschen das Leben kostete. Die Nazionalsozialisten zerstörten auch die Ressourcen, die sie selbst für den Krieg brauchten.

Noch im Februar 1945 versuchte Propagandaminister Joseph Goebbels Deutsche und Europäer gegen die Nachkriegspläne einzustimmen, die die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten in Jalta entworfen hatten. Goebbels fragte:

„Wie wird die Welt im Jahr 2000 aussehen? Europa werde vereinigt sein. Man werde von Berlin nach Paris in nur einer knappen Viertelstunde zum Frühstück fliegen können. Aber der Bolschewismus wird dann immer noch eine Bedrohung sein und durch Europa werde ein Eiserner Vorhang verlaufen.“

Das war in Teilen erstaunlich akkurat. Nur verdeutlicht Mazower in jedem Kapitel seines Buches, warum die Nazionalsozialisten niemals ein vereinigtes Europa zustande gebracht hätten und warum aus Hitlers Reich eben kein Imperium wurde: Die ursprüngliche Sympathie in manchen Ländern war längst einer Verachtung für den Rassenwahn der Nazis gewichen; brutale Unterdrückung hatte Viele in den Untergrund oder als Partisanen in die Wälder getrieben. Die Nationalsozialisten mochten besessene Bürokraten sein. Als Verwalter eines Großreichs waren sie schlichtweg unfähig.

Mazowers erstaunliches Resultat ist: Aus diesem durch und durch Schlechtem entsprang etwas Gutes. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte die Schaffung zahlreicher neuer Nationalstaaten eine europäische Gesamtordnung verhindert. Nach 1945 habe Europa gelernt, über eigene Grenzen hinaus zu denken. Die Architekten des Vereinigten Europas hatten zwar eine untadelige antifaschistische Vergangenheit – aber hinter den Kulissen arbeiteten, so Mazower, einige Männer, die schon im Nationalsozialismus eine Art Vereintes Europa unter deutscher Herrschaft erträumt hatten.

Hier allerdings liegt auch der Irrtum in Mazowers ansonsten großartigem Buch: In Hitlers beschränkter Gedankenwelt konnte Einigung nur durch Kampf und Krieg entstehen. Eine Vereinigung kraft einer Idee war für ihn undenkbar. Und genau das ist die Europäische Union doch: nicht das Ergebnis eines gescheiterten Imperiums, sondern eine der klügsten Erwiderungen auf die Schrecken des Nationalsozialismus.

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