Dienstag, 4. Juni 2019

Lübecker Nachrichten: wie "Reichsbürger" den Behördenalltag lahmlegen / "Reichsbürger" erscheint im "Finanzamt" und will sämtlich gezahlte Steuern zurück

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Lübecker Nachrichten·vor 1 Tag

Auszug:


Lübeck/Kiel
Reichsbürger streiten die Existenz der Bundesrepublik Deutschland ab und gehen von einem Weiterbestehen des Deutschen Reiches aus. „Den demokratisch gewählten Repräsentanten sprechen sie die Legitimation ab. Reichsbürger weisen Gesetze als rechtswidrig und nichtig zurück, beachten diese bewusst nicht und sind daher auch bereit, Verstöße gegen die Rechtsordnung zu begehen. Selbst die Begehung von Straftaten wird von ihnen in Kauf genommen“, heißt es in einer Handlungsempfehlung des Kieler Innenministeriums zum Umgang mit Reichsbürgern.

Behördenmitarbeiter werden bedroht

Helfen sollen die Tipps in erster Linie Behördenmitarbeitern, die mit dem Gedankengut konfrontiert werden. In welcher Form Behörden in Schleswig-Holstein mit Reichsbürgern zu tun haben, geht jetzt aus Stellungnahmen öffentlicher Stellen hervor, die der Staatssekretär im Innenministerium, Torsten Geerdts (CDU), angefordert hat. Und die haben es zum Teil in sich.
So soll ein Reichsbürger im vergangenen Jahr in einem nicht näher benannten Finanzamt erschienen sein und in sehr aggressivem Ton geäußert haben, dass er endlich sämtliche jemals gezahlten Steuern erstattet bekommen möchte, ansonsten würde er sie sich bald mit Gewalt zurückholen. In zwei weiteren Fällen berichten Mitarbeiter davon, dass sie sich starkem psychologischen Druck ausgesetzt sahen, als Reichsbürger aggressiv Akteneinsicht forderten und mit Kripo und Staatsanwaltschaft drohten.

Seitenlange Schreiben

Das Kieler Finanzministerium spricht bei der Art und Weise des Auftretens der Reichsbürger, die mit den Finanzämter oftmals über „seitenlange Schreiben“, in dem sie ihre Rechtsauffassung kommunizieren, zudem „häufig von einem Ärgernis“. Hierdurch würden nämlich mehrere Arbeitsbereiche eines Finanzamtes mit unzulässigen oder unbegründeten Anträgen und Einsprüchen, bisweilen hin zu Finanzgerichten, beschäftigt. Dies beanspruche in erheblichem Umfang Arbeitszeit der Behördenmitarbeiter.

Zahl der Reichsbürger steigt

320 sogenannte Reichsbürger gibt es laut der jüngsten Erhebung in Schleswig-Holstein. Im vergangenen Jahr waren es noch 288. Eine regionale Häufung gibt es dabei nicht, der Kreis mit den meisten Reichsbürgern ist aber das Herzogtum Lauenburg (36). Laut Staatssekretär Torsten Geerdts (CDU) gehe von der Reichsbürger-Bewegung ein „hohes Gefahrenpotenzial“ aus.
Ähnliches weißt der Kreis Schleswig-Flensburg zu berichten. Hier würden Behörden mit „vielfältigen Schreiben und Kopien zur Anerkennung der ,Staatsbürgerschaft’ regelrecht überflutet“. Gegen behördliche Anordnungen werden laut Kreis in der Regel Rechtsmittel eingelegt.
Selbst die politische Leitung des Finanzministeriums erhält wöchentlich Post von unterschiedlichen Reichsbürgern – hinzu kommt quartalsweise ein Telefonanruf, der bei den Büros von Ministerin oder Staatssekretären aufläuft.

Heimliche Aufzeichnungen bei Gericht

Das Justizministerium in Kiel weiß von vereinzelten Störungen von Gerichtsverhandlungen durch Reichsbürger zu berichten. Auch sollen vereinzelt bei Gerichtsverhandlungen heimlich verbotenerweise Bild- und Tonaufzeichnungen vorgenommen worden sein. Am Amtsgericht Neumünster gab es zudem einen gewalttätigen Angriff eines Reichsbürgers an der Eingangskontrolle.

Persönliche Klagen gegen Mitarbeiter

Laut der Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Landesverbände soll im Kreis Schleswig-Flensburg ein Reichsbürger-Paar leben, dass den Kreis wiederholt verklagt und jetzt dazu übergegangen ist, Mitarbeiter der Kreisverwaltung persönlich beim Verwaltungsgericht zu verklagen. Zwar würden die Klagen abgewiesen werden, aber dennoch sind die Mitarbeiter Teil eines Verwaltungsgerichtsverfahren.
„Macht das Beispiel Schule, könnte das insgesamt zur Verunsicherung von Verwaltungsbeschäftigen führen“, heißt es von der Arbeitsgemeinschaft. Im Kreis Pinneberg berichten Verwaltungsmitarbeiter zudem von einigen Dienstaufsichtsbeschwerden gegen sie. Eine Mitarbeiterin ist sich sicher, dass eine Frau ein Gespräch mit ihr mit Hilfe eines Handys in der Tasche aufzeichnete.

Mitarbeiter müssen sich „auf alles gefasst machen“

„Kein Behördenmitarbeiter weiß, ob ein Reichsbürger ihm ,nur’ Ärger und zusätzliche Arbeit einhandelt, oder ob dieser am Ende gewalttätig wird. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen sich auf alles gefasst machen. Allein das bedeutet bereits eine ganz erhebliche Belastung“, betont Dirk Hundertmark, Sprecher des Kieler Innenministeriums.
Jan Wulf

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