Ostpreussen…der Einfall der russischen Bestien…Es geschah, als die Leberblümchen weinten
Serie Geschichte historisch…Ostpreussen…der Einfall der russischen Bestien…Es geschah, als die Leberblümchen weinten
Auszug:
Ich berichte, bevor wir alle
nichts mehr erzählen können. Ich berichte, damit keiner sagen kann, das
hat es nicht gegeben. Ich berichte so, wie es sich zugetragen hat. Ich
berichte, damit die Opfer einen würdigen Platz in unserer Mitte
bekommen. Wir haben überlebt, also haben wir noch eine Aufgabe zu
erfüllen und die heißt berichten.“
Mit diesen Worten leitet der Allensteiner Günter F.
Gerwald-Gendritzki einen Erinnerungsband an das Grauenhafte ein, das er
in dem Inferno erlebte, das über seine Heimatstadt hereinbrach – vor nun
genau 70 Jahren! In dem Band berichtet er in Erfüllung seiner selbst
gestellten Aufgabe über den Horror, der für den damals Siebenjährigen
das Ende einer behüteten Kindheit bedeutete und ihn, wie er nach einem
gravierenden Erlebnis feststellen musste, zum frühen Erwachsenen werden
ließ.
Ich habe diese Stelle bewusst aus dem Buch gewählt, weil dieses in
seiner Erinnerung nie gelöschte Ereignis wohl ein ausschlaggebendes
Motiv war, das ihn und seinen jüngeren Bruder Klaus Dieter zu dieser
Dokumentation zwang, der auch zehn weitere ehemalige Leidensgefährten
aus Allenstein ihre Erinnerungen beisteuern. Der Autor hat ihr den Titel
„Als die Leberblümchen weinten“ gegeben, und er begründet ihn so: „Die
Leberblümchen waren die ersten Blumen, die wir inmitten des Elends
sahen. Als der Schnee durch die ersten Sonnenstrahlen tagsüber etwas
schmolz und die Leberblümchen Tautropfen
auf ihren blauen Blüten hatten, sah es aus, als würden sie weinen.“ Ich
bekam das Buch von ihm im April vergangenen Jahres zugesandt, es ließ
sich aber damals nur schwer in die Thematik unserer Familienseite
einbringen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen, denn sein Bericht
fügt sich nahtlos in unsere termingemäße Auflistung des Geschehens vor
70 Jahren ein, mit der wir auch den nicht mit einer so schweren Erinnerungshypothek belasteten Lesern die kaum fassbaren Vorgänge transparenter machen wollen.
Sie versuchten noch mit einem Zug vor den Russen zu fliehen, der
siebenjährige Günter und sein vierjähriger Bruder mit ihrer Mutter aus
der Kleeberger Straße in Allenstein, aber die Eroberer waren schneller.
Auch der Bunker, in den sie geflüchtet waren, bot keinen Schutz.
„Es war am Mittwochvormittag, als mit
lautem Getöse die Bunkertüre aufgerissen wurde und sowjetische Soldaten
mit MPs im Anschlag in den Bunker rein brüllten. Ich hörte nur ,Dawai,
Dawai‘. Wir zitterten vor Kälte wie vor Angst. Die Frauen und Kinder
links, die Männer rechts, bewacht von der Soldateska. Wir wurden aller
Uhren und Schmuckstücke beraubt, die Russen schlugen auf die Frauen ein,
die nicht schnell genug ihre Eheringe vom Finger bekamen. Ein Mann mit
einem Goldzahn wurde mit dem Gewehrkolben so ins Gesicht geschlagen,
dass er mehrere Zähne verlor. Er schrie, bis ihn einige Schüsse
verstummen ließen.“
Es war eine Vorahnung von dem, was noch kommen sollte. Frauen und
Kinder wurden in das Gebäude der Eichendorff-Schule getrieben, das als
Reservelazarett gedient hatte.
„Wir begannen sofort mit den Decken, die da herum lagen, Mutter und
die mit uns geflohene Tante Edith zuzudecken. Wir Kinder haben uns groß
davor gesetzt, so dass man von unten die Frauen nicht sehen konnte. Mit
Beginn der Dunkelheit begannen dann die entsetzlichen Gräueltaten. Die
Schule war voller Sowjets. Die stürmten in die Zimmer und rissen die
Frauen und Mädchen auf die Flure und in den Keller zur
Massenvergewaltigung.
Ihre Schreie waren grauenhaft, ich hielt mir die Ohren zu und
trotzdem war alles zu hören. Stunde um Stunde gingen die Verbrechen
weiter. Wir Kinder konnten unsere Frauen gut mit unseren Körpern
schützen, indem wir uns drauf legten. Grauenvolle Szenen spielten sich
ab, die sich in der nächsten Zeit immer wiederholten.
Am nächsten Morgen wurden etwa 300 Frauen und Kinder zu einem Treck
zusammengestellt, den die Russen mit ,Dawai, Dawai‘ antrieben. Unsere
Frauen sagten: ,Das ist nicht gut, das geht jetzt in die Gefangenschaft
nach Russland, nach Sibirien!‘ Hoffnungslosigkeit machte sich breit.
Eine tagelange Odyssee begann, der Treck wurde aus Allenstein heraus
nach Stabigotten getrieben.
Nicht alle Frauen und Mädchen traten an. Sie waren über Nacht erfroren oder den Verletzungen der Vergewaltigungen erlegen.
Weiter, weiter. Wir waren so erschöpft, dass wir keine Regung zeigen
konnten. Abwechselnd wurden mein Bruder oder ich von meiner Mutter auf
dem Rücken getragen. Wir kamen an einem Gasthof an, und es sollte die
Nacht werden, in der ich erwachsen wurde. Wir wurden auf verschiedene
Räume verteilt und waren gerade eingeschlafen, als es draußen lärmte.
Die Türe flog auf, und die Russen standen vor uns.
Mit vorgehaltener Waffe wurde meine
Mutter zum Mitgehen gezwungen. Ich hatte noch die schrecklichen Stunden
in Allenstein im Kopf und befürchtete Schlimmes. Es dauerte nicht lange,
und ich hörte meine Mutter schreien.
Als sie meinen Namen rief, hielt ich
es nicht mehr aus. Ich rannte in den Saal und schmiss mich gegen den auf
meiner Mutter liegenden Russen, der seitlich runter flog. Ich
nahm meine zitternde Mutter an die Hand und ging mit ihr aus dem Raum.
Dort klammerten mein Bruder und ich uns fest an die Weinende, damit sie
endlich zur Ruhe kam. Dass die verdutzten Russen meine Mutter und mich
gehen ließen, war wirklich ein Wunder!
Die hätten mich auch erschießen können. In dieser Nacht verlor ich
meine Kindheit, seit dieser Nacht hatte ich gegenüber meiner Mutter
einen Beschützerinstinkt entwickelt, der ein Leben lang anhielt. Wir
wurden so Vertraute für alle kommenden Situationen.“
Und von denen gab es noch genug in seinem jungen Leben, das erst
nach sieben Jahren in Düsseldorf in feste Bahnen kam. Herr
Gerwald-Gendritzki gab das Buch in eigener Regie heraus, es fand sofort
Resonanz und ist leider schon vergriffen, eine Neuauflage scheint
möglich. Im Augenblick arbeitet der Autor an einem Ergänzungsband, denn
er sieht seine Aufgabe noch lange nicht erfüllt.
(Günter F. Gerwald-Gendritzki, Laacher Weg 44 in 40667 Meerbusch,
Telefon 02132/915832,
E-Post: g.f.gerwald@web.de) R.G.
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